Ohne Gewalt. Geschichte und Bestimmung einer Ethik ohne Religion.

e-Book, 2012; erhältlich bei allen gängigen online-Buchhändlern.

SCHLECHTE NACHRICHTEN ZUERST: Nahezu täglich füllen Überfälle Jugendlicher auf andere Jugendliche, Erwachsene oder Kinder die Schlagzeilen der Internetnachrichten oder der Gazetten. Magazine berichten über Kinder, die ihre Mitschüler via Internet mobben, über Väter und Mütter, die ihre Kinder vergewaltigen, misshandeln, verprügeln, einsperren, töten. Die Nachrichten quellen über von Berichten über Sprengstoffattentaten, Scharfschützenattacken, Massenvergewaltigungen in Flüchtlingslagern, Bombardierungen, Genoziden, Lynchjustiz oder staatlich verordneten Folterungen und Hinrichtungen. Börsianer und Banker setzen das Leben Tausender aufs Spiel, indem sie auf Rohstoffe für Lebensmittel spekulieren, und verschärfen damit die durch Missernten, Klimakatastrophen und politische Ausbeutungswirtschaft sowieso schon prekäre soziale Lebenssituation in Hungerregionen – auch eine Art von Gewaltausübung –, spielen radikalen Kräften in die Hände, die nur Gewalt und Unterdrückung als ihr politisch-psychopathisches Ziel anerkennen. Erich Fromm und Vertreter der Kritischen Theorie versuchten, den Kitt, den eine Gesellschaft zusammenhält, zu lokalisieren. Sie fanden den sozialen Charakter, ein durch die sozial-ökonomischen und kulturellen Bedingungen hervorgebrachtes und von den meisten Mitgliedern einer Gesellschaft geteiltes System von Einstellungen, Gefühlen und Idealen, und die Ideologie des Kulturbetriebs; doch diese sind produzierte Vehikel der Herrschafts- und damit Gewaltverhältnisse in einer Gesellschaft: Gewalt – mit ihren willigen Begleitern Macht und Angst – ist, in allen ihren Ausformungen, der Kitt moderner Gesellschaften, unabhängig von ihren politischen Ausrichtungen.
ETWAS OPTIMISMUS UND UTOPIE: Diesem durchaus pessimistischen Gesellschaftsbild, das durch kollektive und individuelle Gewalt charakterisiert ist, stehen theoretische Entwürfe und praktische Beispiele gegenüber, die das Bild einer humanen Gesellschaft formen und entwerfen. So gibt es eine große Anzahl von Gesellschaften, Vereinen, Initiativen und Einzelpersonen, die sich uneigennützig um die Belange ihrer Mitmenschen kümmern, seien diese Mitmenschen Nachbarn oder weit entfernte Opfer von Flut- oder Hungerkatastrophen, Menschen, die einen Humanismus leben und praktizieren. Auf theoretischer Ebene gibt es seit Jahrtausenden eine Tendenz innerhalb des ethischen Diskurses, humanistische Bestrebungen in den Mittelpunkt moralischer Verhaltensweisen zu stellen; hierzu gehören insbesondere die Ethiken, die das Mitgefühl, das Mitleid als treibende humanistische Kraft ansehen.
Trotz dieser langen humanistischen Tradition, wird Mitfühlen, Mitleiden, Helfen als exotisches, individuelles Anliegen betrachtet. Deshalb werden Benefizshows und Spendenaktionen veranstaltet, um die Zuschauer über ihre persönliche Betroffenheit zum Helfen zu animieren, deshalb wird staatliches Wohlwollen, das meist nur fiskalischen Ausdruck findet, so argwöhnisch betrachtet, der Hilfeempfänger als Schmarotzer angesehen, deshalb werden Helfende oftmals belächelnd als Gutmenschen bezeichnet, deshalb ist es zwar möglich, für so genannte systemrelevante Banken, für Waffenlieferungen und Kriegshandlungen Milliarden auszugeben, Personen aber, die sich tagtäglich um das Wohl von Kindern oder alten Menschen, Behinderten oder Kranken kümmern, in den Leichtlohnsektor abzudrängen. Gewalt wird ganz im Gegensatz zu altruistischen Bemühungen immer noch als eine natürliche individuelle und kollektive Kraft angesehen, um Ziele zu erreichen, ganz gleich, ob diese ökonomisches Wachstum (der Gott moderner Gesellschaften schlechthin), Exportweltmeister, Ressourcensicherung, Macht oder, hämisch verschoben, Freiheit heißen.
Deshalb muss sich jeder selbst fragen: Glaube ich den Bibelworten, „Zucht und Schläge zeugen stets von Weisheit“. Glaube ich, dass ein kleiner Klaps noch keinem Kind geschadet habe. Glaube ich, die Erziehung zu religiösen Werten fördere das moralische Bewusstsein. Glaube ich, dass Erziehung heute Egoismus und Durchsetzungsfähigkeit fördern solle, um in der ökonomisierten Welt zu bestehen.
Wenn Sie diesen Äußerungen zustimmen können, glauben Sie vielleicht auch, Erziehung solle dazu beitragen, Kinder bestmöglich auf die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse vorzubereiten, die sich durch Egoismus, scheinbare Individualität, Gewaltbereitschaft, individuelle und kollektive Rücksichtslosigkeit auszeichnen, und dennoch zu einem moralischen Menschen zu formen. Sie denken, Kinder benötigen heute „Ellenbogen“, um sich durchsetzen zu können. Sie wissen, der Wettkampf um Ansehen, Macht und eigenen Vorteil beginnt früh, schon im Kindergarten. Sie vermuten, ein wenig Härte, wie sie populistische Pädagogen oder der mediale Hype um Amy Chua, die Erziehung mit militärischer Unterwerfungspraxis verwechselt, propagieren, kann da nicht schaden.
Das vorliegende Buch widerspricht all dem – aber es ist kein Buch über Erziehung, weit entfernt davon, ein Ratgeber zu sein; Erziehung wird nur am Rande behandelt. Es ist äußerst theoretisch, dennoch leiten seine Aussagen zu Erziehungsfragen, indem es von der Überzeugung getragen ist, dass einerseits moralisches Verhalten zu großen Teilen durch veränderbare genspezifische und evolutionsbedingte Dispositionen sowie durch Erziehung geprägt ist, andererseits eine Erziehung zur Härte, zur Anpassung nur an gesellschaftliche Gegebenheiten, an Konkurrenzdenken und Beförderung des eigenen Nutzens oder eine Erziehung nach religiösen Normenkatalogen weiter zur individuellen und gesellschaftlichen Gewalt beiträgt. Im Zentrum des Buches steht das Mitleid. Ein, zugegeben, ethisch problematischer Begriff. Von Schopenhauer als alleiniges moralisches Fundament identifiziert und in den Mittelpunkt seiner Philosophie gestellt, von anderen als unzulängliches, selbst aus egoistischen Motiven geleitetes Prinzip gescholten, von Theologen und religiösen Vertretern als göttliche Gabe interpretiert, nimmt das Mitleid in der ethischen Diskussion eine zwiespältige Stellung ein.
Das Buch wird zeigen, dass das Mitleid, sowohl losgelöst von egoistischen, selbstbezogenen Implikationen, von der Überforderung, als alleiniges Fundament der Ethik zu fungieren, als auch von der Vereinnahmung durch religiöse Bezüge auf einen vorgestellt barmherzigen Gott, eine zentrale Rolle bei der Beantwortung der Kantschen Frage: „Was soll ich tun?“ spielen kann. Dabei ergibt sich die Frage, welchen Stellenwert das Mitleid innerhalb der Erziehung erhält, ganz von selbst. Ohne jene Beimischungen kann tätiges Mitleid, die Einsicht in die Notwendigkeit der Nichtverletzung des anderen, über die Erziehung dazu beitragen, menschliche Interaktion gewaltfreier und weniger egoistisch zu gestalten. Eine Auseinandersetzung mit der alten Dichotomie zwischen Gefühl und Vernunft ist dabei ebenso unumgänglich wie die mit der Vereinnahmung des Mitleids durch die Religionen, die Gewaltfreiheit und Mitleid propagieren, deren Ansprüche aber durch ihre eigenen Geschichte ad absurdum geführt werden.

Merken