Zeit im Grünen oder „In einem Hain, der einer Wildnis glich“. Collagierte Reflexion einer Reise.

Unkel: Sarusy, 1995.

Auszüge:

ANKUNFT
Obwohl der Flug den halben Erdkreis umspannt hatte, empfand Georg die Reise als sehr kurz: Frankfurt – Los Angeles. Zwischenlandung. Am nächsten Tag eine Übernachtung im berühmten Honolulu. Weiter mit einer kleinen Propellermaschine der Hawaiian Air, die ihn zunächst auf eine der jüngeren, feucht-warmen Inseln entführte.
Nur wenige Touristen hatten ihn bis auf Big Island begleitet, die meisten deutschen Touristen lagen in der trockenen Sonne der Pazifikküste Amerikas oder wendeten ihre weißen, sonnenentwöhnten Dörrkörper am renomierträchtigen Waikiki-Strand, schlürften gelangweilt ihre Drinks und genossen die Vorstellung, in der Heimat Exotisches erzählen zu können. Im Herzen Hochsommer-Mallorcaner und Reminiisten belauerten sie Fremdes. Ihre Gespräche kreisten um Bekanntes, um Lieblingsmannschaften und Essen. Doch sie fieberten nach Erzählenswertem, das ihnen Bewunderung und Neidstaunen einbringen und sie als Kenner einer anderen Welt ausweisen würde, das sich die armseligen Einwegtouristen an die braungebrannte Brust heften könnten, um es als Individualitätsetikett, als ertäuschte Unterschiedlichkeit zu nutzen.
Sie werde nur zwei Tage auf der Insel bleiben, hatte eine Frau mittleren Alters, deren glattes, make-up-eingefärbtes Gesicht angeklebt schien, in dem winzigen, von Turbulenzen geschüttelten Flugzeug mit angstvoll vorgestrecktem Kopf Georg zugeflüstert. Es gäbe auf ihr noch einen tätigen Vulkan, seltene Pflanzen und Tiere, noch richtigen Urwald und unberührte Strände. Die meiste Zeit werde sie aber im Hotel, am Pool oder in dem großen, geräumigen Hotelzimmer, verbringen, vielleicht einen Hubschrauberrundflug über die Insel oder eine Busfahrt entlang der Küste unternehmen. Neues könne sie kaum erfahren, sie kenne die Reiseführer und -videos genau. Tatsächlich auf der Insel gewesen zu sein, gäbe ihr aber die Möglichkeit, zu Hause von ihrer Reise zu erzählen. Und nichts bereite ihr so großes Vergnügen – und bei diesen Worten belebten sich ihre faltig-verkniffenen Augen, und die künstliche Trennlinie zwischen Gesicht und Kopf schien aufplatzen zu wollen – als in die gierig-neidigen Ohren ihrer Freunde und Bekannten, ihrer Arbeitskollegen und Verwandten die nicht erlebten Erlebnisse dieser Reise einzuträufeln […]

VERMISCHTES GRÜN …
Langsam näherte sich Georg der Anhöhe. Zu beiden Seiten der Straße türmte sich Lawagestein auf. Spärlicher Flechtenbewuchs färbte es grün. Als Georg den Gipfel erreichte, wuchs ihm eine schier unüberblickbare Vielheit tropischen Dschungelgrüns entgegen und umwölbte ihn in tausendfachen Nuancen. Vor seinen Augen breiteten sich Gewächse ineinandergeschobener grünschimmernder Baum-, Busch-, Gras- und Farnteppiche aus, hügelig aufgefaltet wellten sie sich bis zum neblig verschwommenen Horizont, wo sich das filigrane Muster blaßgrüner Baumkronen mit der hellen Bläue des Himmels mischte. An wenigen Stellen nur durchschnitt das Weiß alter, im Feuer vergangener Vulkanausbrüche skelettierter Ohiabäume das grüne Allerlei. Sekundenbruchteile nur, auf dem höchsten Punkt der Anhöhe, verbanden sich in seinen Augen das Luftgewölbe und die grüntriefende Erde, um dann wieder unvereinbar getrennt gegeneinander zu stehen.
Im Grunde sind es immer nur kurze Gedankenblitze, in denen die Anschauung eine Vereinbarkeit – oder zumindest die Möglichkeit einer Vereinbarkeit der Widersprüche vorgaukelt, dachte Georg.
Erhellte dieser Blitz unsere Vorstellung der Welt dauernd taghell, erstrahlte darin nur die Lüge der Gesellschaft und das Wechselspiel von Betrug und Selbstbetrug des Geistes, der Vernunft und der Gefühle. Widersprüche werden erträglich in der erzwungenen Illusion immerwährender greller Wirklichkeit aus aneinandergereihten wirkungslosen Realitätsbildern, die dem darin existierenden Betrachter wie lose verknüpfte, doch gleichsam notwendige Reality-Shows erscheinen […]

„IN EINEM HAIN, DER EINER WILDNISS GLICH
UND NAH‘ AM MEER EIN KLEINES GUT BEGRÄNZTE“
ODER
BESUCH BEI CHRISTOPH

[…] Georg betrat einen großen, sich bis zur hinteren Ausgangstüre erstreckenden Raum. Neben der Türe, deren jalousieverhangenes Fenster einen diffusen Blick auf die blassen, das zitternde Grün zerschneidenden Umrisse des brüchig weißen Terassengeländers zuließen, füllte ein Fenster fast den ganzen Wandraum zwischen Ausgang und der den angrenzenden Raum zur Linken abtrennenden Wand aus. Auch das Fenster war mit Jalousien versehen, die aber im Gegensatz zu denen des Türfensters fast geschlossen waren.
Pralle, dünnharte Lichtstrahlen fielen durch ihre Schlitze und projizierten, zusammen mit den weicheren, breiter durch die Türjalousie strahlenden, ein abstraktes, von der Sonne bewegtes Muster in den Innenraum. Sie duckten, kauerten am dunkelhölzernen Fußboden, wanden sich bizarr um runde und eckige, wie im Raum abgestellt wirkende Möbel und Gegenstände und verliehen ihnen widersprüchliche Gestalt im Spiel von Licht und Schatten.
Das links an den Wohnraum angegliederte Zimmer lag vollkommen im Dunkeln. Durch die halboffene Türe drang kühle Luft aus dem vom heißen Draußen abgeschotteten Nebenraum, die sich mit der gefilterten, den großen Raum erfüllenden Warmluft nur zögernd mischte.
An der Wand zur Rechten lehnte ein alter Sekretär und versperrte Georg zunächst den Blick auf einen dunkel verhüllten Treppenaufgang zum ersten Stock. Auf der heruntergeklappten Arbeitsplatte des Sekretärs lagen geöffnete sowie noch verschlossene Umschläge, Briefe, von denen manche aufgefaltet die Anliegen der fernen Schreiber freigaben. Marken und Poststempel verrieten ihre entrückte Heimat, andere verbargen schüchtern ihre mit einer fremden Hand geschriebenen Wörter und Sätze, gedanklichen Zusammenhänge, Worte der Liebe, der Sehnsucht vielleicht, der Bitte um Rückkehr, des Hasses und des Aufgebens, schützten sich mit ihren scharf gefalteten Kanten vor dem unberechtigten Leser, wieder andere mit gedruckten oder maschinengeschriebenen Adressen und angegilbten Rändern, offizielle Schreiben von offiziellen Stellen, quollen dem Leser aufdringlich aus Seitenfächern entgegen, einige davon dennoch offensichtlich ungeöffnet, ungelesen. Das auf und in dem dunklen Möbelstück angeordnete Sammelsurium aus Briefen, Schlüsseln, abgerissenen Papierzetteln, Bleistiften und Füllfederhaltern, einem kleinen Mörser, angebrochenen Aquarellfarben, staubigen Pinseln, einem metallenen zigarettenrauchenden Affen, der eher einem mutierten gestiefelten Kater glich, sowie die zahllosen Kleinodien, welche die Fächer und die teilweise offenstehenden Schublädchen füllten, aus denen die kleine Christoph‘sche Erinnerungswelt lugte, wirkten wie ein unberührtes, aber auch unantastbares Stilleben, als ob Christoph seine frühere, abgelegte Welt in diesem alten, mit feinen Intarsien geschmückten Schrank verlegt hätte […]
Rechts neben dem hölzernen Sekretär ragte ein Regal bis zur Decke. Vollgestopft mit Büchern, Zeitschriften und zusammengefalteten Zeitungen und Zeitungsausschnitten zog es Georg nahezu magisch in seinen Bann. Er interessierte sich seit je für private Bibliotheken, die manchmal nur aus einer Ansammlung weniger Bücher bestanden. Überall, wo er zu Gast war, stöberte er in fremden Bücherreihen. Er hatte bei diesen Expeditionen die verschiedenartigsten Ausstellungsarten und -formen der Bibliotheken seiner Gastgeber vorgefunden: wohlgeordnete Bücherfluchten, in denen die nach Aufschlagen, Anfassen und Lesen fiebernden Werke wie Zinnsoldaten in Reih und Glied stehen mußten, unberührte, ungelesene Dekorationen, literarische, nach Größen und Farben sortierte Meterware; aus anderen Regalen drängten die Bücher zur Lektüre, dort wagten sich manche Buchrücken über die Kante der Einlagebretter hinaus, manche zogen sich zwischen ihren naseweisen Kollegen zurück, um geradeso Neugierde zu wecken; wieder anderen war von vornherein die Chance, entdeckt, gelesen, geliebt, gelebt zu werden, verwehrt worden, sie dienten, zum Heiligtum erklärt, auch nicht der Ausgestaltung eines Raumes, sondern seiner, und des Besitzers Weihe, verschlossen hinter den Glastüren der Vitrinenschränke blieb ihr Innerstes verborgen.
Christophs Bibliothek, stellte Georg fest, gehörte einer selteneren Kategorie an. Dem ersten Blick bot sich nur ein Durcheinander beschriebenen Materials, gebundenen Papiers und Zettelkrams. Genaueres Hinsehen führte dann nicht zu einer wie auch immer gedachten Ordnung, sondern zu der Einsicht, die allesamt häufig benutzten Werke stünden in einer engen Beziehung zueinander.
Manche Bücher standen in keiner der schiefen Reihen aufgestellter oder gelegter Bände, sondern lagen auf den Bücherbrettsimsen, einige offen, andere geschlossen, den speckigen Rücken vorbeugend, und in der oszillierenden warmen Luft schien es, als atmeten die Seiten der aufgeschlagenen Bücher ihre erdachten Welten aus und die außerhalb liegende, wirkliche ein – vielleicht wechselten sie sich bei dieser Tätigkeit auch von Zeit zu Zeit ab, vermischen konnte sich diese innere Welt der Bücher mit der äußeren aber nur in dieser schmelzenden, dämmrigen Luft, die Christophs Arbeitsraum erfüllte, draußen wäre das Gemisch im gleißenden Licht zerstäubt.
Spärliche Lichtstreifen beleuchteten nur wenige Werke, und so erkannte Georg nur einen geringen Teil der Titel. Die in den Reihen und Winkeln des Regals dösenden verbargen sich in undurchdringbarem Schatten. Gleich vor ihm, in Augenhöhe, lag auf einem der hölzernen Simse Thomas Manns Zauberberg. Aufgeschlagen türmten sich die inneren Seiten zu einem Blätterfächer, dessen Halbrund nur wenig von einem darunterliegenden Werk freigab, der größte Teil des Titels war in den finsteren Schatten verbannt, nur die Wortbrüche …des inneren Zeitbewußt… waren im Halbschatten zu lesen, den Rest verdeckte Platons Timaios.